Das Problem heißt Armut

Mit Verschwörungsideologen zu debattieren ist anstrengend. Die Welten, in denen die Gesprächsteilnehmer leben, sind zu unterschiedlich, als dass man sich auf eine gemeinsame Mitte verständigen kann. Versuchen sollten wir es trotzdem.

Die Frau neben mir auf dem Alexanderplatz ist sich sicher: Bill Gates will uns zwangsimpfen und anschließend chippen. Ihr Mundschutz, über den sie mit schwarzem Filzstift „Maulkorb“ schrieb, baumelt von ihrem Ohr. Dazu hat sie eine rote Bommel an ihre Tasche gepinnt – das Erkennungszeichen unter Verschwörungsideologen. Sie treffen sich an diesem Samstag, Angang Mai bei strahlendem Sonnenschein mitten in Berlin.
Ob Bill Gates auch mir einen Chip implantieren wolle, frage ich sie. Sie nickt. Es sei doch alles belegt. „Und jetzt nehmen Sie endlich dieses Ding ab!“, befiehlt sie mir und deutet auf meinen Mundschutz. Ob ich denn nicht wisse, wie viele Menschen schon durch das Tragen einer Atemschutzmaske erstickt seien? Die Information wäre mir neu, sage ich. Darauf schüttelt sie den Kopf und fordert mich auf, mich besser zu informieren: „Solange das noch möglich ist.“

Die Selbstermächtigung des kleinen Mannes

Die Szenen, die sich an diesem Wochenende auf dem Alexanderplatz und in vielen anderen deutschen Städten abspielen, können Angst machen. Eine bunte Mischung aus Rechts- und Linksradikalen, Esoterikern und anderen gesellschaftlichen Aussteigern verkündet lautstark ihre Ablehnung der Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. Nicht nur sei das Virus völlig ungefährlich, auch stecke dahinter ein geheimer Plan einer noch geheimeren Weltelite. Das „Volk“ solle für dumm verkauft werden, die Mächtigen der Welt lachten sich still ins Fäustchen über die Naivität ihrer Untertanen. Die etablierten Medien seien allesamt Teil des Systems, die Wahrheit komme nicht mehr ans Licht. Man müsse sich selbst informieren, erklärt mir ein anderer Teilnehmer, diesmal vor der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

„Das ist wie früher mit den Juden“, erklärt er mir. Diese mussten sich zunächst auch markieren, bis sie später deportiert wurden. Ich versuche dagegenzuhalten. Ich erkläre ihm, dass der Vergleich nicht past: „Heute sind ja nicht einzelne Personengruppen angehalten, einen Mundschutz zu tragen, sondern alle.“, sage ich. „Wenn Sie keinen tragen wollen, markieren Sie sich doch freiwillig selbst.“

Alle haben Angst – so könne es nicht mehr weitergehen

Zu meiner Überraschung nickt der Mann. Ich hätte schon recht, sagt er und schaut zu Boden. Als ich ihn frage, wie es ihm denn zurzeit so gehe, wird er schnell persönlich. Er sei LKW-Fahrer, seine Firma wird es nächstes Jahr vermutlich nicht mehr geben. Er habe Angst, sagt er. Und fühle sich vom Staat alleingelassen. Auch der Frau vom Alexanderplatz stelle ich diese Frage. Ihr gehe es nicht gut, antwortet sie mir. Ihre behinderte Tochter sei im Januar gestorben. Auch sie sei in großer Sorge. „So kann es doch nicht mehr weitergehen!“

Man ist geneigt, diese Menschen und ihre Äußerungen als verrückt zu bezeichnen. Doch das ist zu einfach. Ja, mit Verschwörungsideologen zu debattieren ist anstrengend. Die Welten, in denen beide Gesprächsteilnehmer leben, unterscheiden sich zu sehr, als dass man noch eine gemeinsame Mitte findet. Dennoch sollten wir es versuchen. Die Wut der Menschen ist echt – auch wenn den Betroffenen vielleicht selber nicht klar sein mag, woher sie kommen mag.

Ein Teil der Gesellschaft hat sich aus dem Mediensystem verabschiedet

Was ist es, was diese Menschen antreibt? Ist es tatsächlich die Angst vor Bill Gates, der Bundesregierung oder ihrer Zukunft? Anlässe für Ängste gibt es derzeit reichlich. Die Schere zwischen Arm und Reich geht in Deutschland weiter auseinander und wird durch die Coronakrise weiter verschlimmert. In Großstädten ist der Wohnraum knapp und teuer, die Obdachlosigkeit ist rasant gestiegen. Die vergangenen Jahre waren die heißesten der Wetteraufzeichnung – der Klimawandel ist im vollen Gange.

Diese Demonstrationen offenbaren es: ein nicht unbeträchtlicher Teil der Gesellschaft hat sich aus dem gängigen Medien- und Nachrichtensystem verabschiedet. Die Zugkraft der Veranstaltung mag in den letzten Wochen stark nachgelassen haben. Dennoch ist hier keine Gefahr gebannt. Die Anlässe zum Demonstrieren werden bleiben.
Zum Ende unseres Gespräches schenkt mir die Frau doch noch ein Lächeln. Sie freue sich, dass ich den Kontakt zu ihr gesucht habe, sagt sie. „Es tut gut, wenn mir jemand zuhört.“ Ich könne doch gerne nächste Woche wiederkommen. Zum Abschied winkt sie mir zu. Ich werde nächste Woche wiederkommen, werde wieder das Gespräch suchen, obwohl es anstrengend ist.

Dieser Text entstand im Rahmen einer Bewerbung zur Axel-Springer Akademie.

Veröffentlicht von Paul Gäbler

Freiberuflicher Journalist, Podcaster und Fotograf in Berlin.

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