Heute wäre Roger Willemsen 65 Jahre alt geworden. Meiner Generation ist er weitgehend unbekannt. Wie ich ihn zufällig bei YouTube entdeckte, an einer Sucht erkrankte und an meinen alten Deutschlehrer denken musste.
Als Roger Willemsen im Oktober 1994 Madonna interviewte, war ich noch nicht mal ein Jahr alt. Wer in den 90er Jahren die Fernsehlandschaft beobachtete, kam um ihn vermutlich nicht herum. 2001 zog er sich aus dem aktiven Showgeschäft zurück und blieb daher meiner Generation weitestgehend verwehrt. Am Tag seines Todes überströmten die Highlights seiner öffentlichen Auftritte meine Facebook-Timeline. Ich begann mit seiner vernichtenden Kritik an Germanys Next Topmodel, eine Sendung, die er als „Schändung seines Frauenbildes“ empfand. Über Heidi Klums Vater sagte er, dass er möglichst „aus dieser Form des Mädchenhandels entfernt würde.“ Die Kostprobe reichte. Ich wurde süchtig.
Ich begann, mich durch die Weiten YouTube’s zu kämpfen. Jedes Interview, jeden Talkshowauftritt, jede abgefilmte Bühnendarbietung. Als ich nichts mehr fand und erste Entzugserscheinungen einsetzten, begann ich, seine Bücher zu lesen.
Mit dieser Faszination bin ich nicht alleine. Die Begeisterung für Willemsen hält ungebrochen an und es ist schwer zu erklären, woher genau sie kommt. Als „hochintelligenten Intellektuellen, mit dem man sowohl über Atomphysik als auch Analsex reden kann“, bezeichnete ihn der österreichische Moderator Christoph Grissemann. Und Manfred Bissinger, einer von Willemsens engsten Freunde, sagte in seiner Trauerrede: „Bei Roger Willemsen verbanden sich die Provokation auf wundersame Weise mit dem intellektuellen Zweifel.“
Bezeichnenderweise erinnert mich Roger Willemsen an meinen ehemaligen Deutschlehrer. Er war einer dieser Lehrer, die polarisierten. Die eine Hälfte der Klasse liebte ihn. Die andere fand ihn unmöglich. Er beleidigte uns mehr oder minder elegant, nannte mich einen „dummen Bauerntrottel“. Als er von einem aufgebrachten Elternteil beim Elternabend konfrontiert wurde, den Sohn „Dummkopf“ genannt zu haben, entgegnete er trocken, irgendjemand müsse ja damit anfangen, seine Kinder zu erziehen. Alles mit einem schelmischen Lächeln im Gesicht. Jedes Gespräch begann er mit einer Provokation, um langweilige und konforme Konversationen bereits im Keim zu ersticken. Provozierte man zurück, war er zufrieden. Reagierte man nicht oder nur verhalten, schaltete er einen Gang höher. In einem waren sich aber fast alle einig: er war ein hervorragender Lehrer. Er vermittelte Bildung und kein Wissen. Er entfachte Begeisterung, ließ uns an seinen Gedanken teilhaben und gab uns Wurzeln und Flügel.
In dem halbstündigen Eiertanz mit Madonna beschleichen sich beide Protagonisten und es entsteht ein Gespräch ohne Zugriff. Es ist ein gutes Beispiel dafür, wenn Wort- und Sprachwitz nicht zünden, die Provokationen ins Leere laufen. Willemsen fragt, was sie denn, neben den offensichtlichen sexuellen Bezügen in ihrer Musik, für Impotente zu bieten habe. Der Queen of Pop entgleiten für einen kurzen Moment die Gesichtszüge, doch sie weigert sich beharrlich, ein Gespräch am „Außenposten der Radikalität“ zu führen. Die Wertung dieses Interviews fällt bis heute unterschiedlich aus. Viele warfen Willemsen vor, Madonna am Nasenring durch die Manege geführt zu haben, sie lächerlich zu machen und ihr seinen Gesprächsstil aufzudrücken. Andere sehen in dem Interview ein Beispiel für die Farblosigkeit der zu der Zeit omnipräsenten Musikerin, die ihren vorangetragenen Feminismus lediglich als Marketingprodukt benutze.
Aus journalistischer Sicht ist es vermutlich ein schlechtes Interview. In Willemsens Sendungen wurde geweint, gelacht, getanzt und das Unsagbare ausgesprochen. Madonna war für diese Art des Humors nicht zu haben. Dies ist ihr gutes Recht. Humor ist verschieden. Für jemanden wie Willemsen muss der landläufige Smalltalk eine Zumutung gewesen sein. Das es auch anders gehen konnte, bewies Katrin Bauerfeind
„Und? Wie viele Gäste kommentieren deine schmutzige Lache?“ wird sie begrüßt, als sie ihn für einen Tag als Assistentin begleitet. Es ist ein rührender, intimer Einblick in den Alltag des Autors und Menschen Willemsen. Er grüßt sein Umfeld wie gute Freunde und weiß über alles und jeden Bescheid – sogar der Post-Mitarbeiterin gratuliert er zur bestandenen Prüfung. Wenn er nach Hause komme, sagt er in einem vermutlich selten ehrlichen Moment, sei er heilfroh „kein Gesicht mehr machen zu müssen.“ Nach einer Lesung sitzt er geduldig am Signiertisch und hört den Leuten zu. „Mein Mann ist gestorben“, erzählte ihm einmal eine Zuschauerin. „Ich bin vier Jahre nicht aus der Wohnung gekommen. Ich brauchte ein Motiv. Heute waren Sie mein Motiv.“
Neben seinem Grab auf dem Hamburger Ohlsdorffriedhof steht eine Bank. Sie soll zum Verweilen und Ruhen einladen, wie Willemsen es gewünscht hat. Gestiftet hatte sie der Afghanische Frauenverband, dessen Schirmherr er war. Als die Bundeswehr 2001 in Afghanistan einzog und erzählte, Frauen zu helfen, Brunnen zu bohren und Grundschulen zu bauen, unterstütze er gezielt afghanische Feministinnen. Auf der Bank findet sich eine Inschrift in der Landessprache Dari:
„Ich möchte Menschen glücklicher zurücklassen als ich sie vorgefunden habe.“
Es gibt vermutlich kein höheres und schöneres Ziel im Leben.
Wunderbar!!!
Ein lehrreicher Text den du geschrieben hast.
Mal schauen was es noch auf deiner Webseite zu lesen gibt.
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