Was muss noch passieren, damit „Querdenken“ als Gefahr wahrgenommen wird?

Diese Demo lief vollkommen aus dem Ruder. Die Verantwortlichen muss man an dieser Stelle klar benennen: die hessischen Justiz- und Polizeibehörden haben auf ganzer Stelle versagt.

Über 20.000 Personen kommen in Kassel zusammen, um gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung zu demonstrieren. Die Freiheitseinschränkungen durch die Pandemie sind aber eher Ventil als Ursache. Hier wird Stimmung gemacht gegen alles Elitäre. Medien, Politiker:innen und auch Polizeikräfte werden als eine kollektive Bedrohung des eigenen Weltbildes wahrgenommen.

Erst am vergangenen Freitag war die Demonstration vom hessischen Verwaltungsgerichtshof in zweiter Instanz teilweise verboten worden. Lediglich kleinere Demonstrationen in der Innenstadt waren erlaubt, der geplante Umzug über den Innenstadtring untersagt worden.

Die Einsatzleitung schien bereits im Vorfeld kein Interesse daran zu haben, die massenhafte Ansammlung in der Innenstadt zu verhindern. Als sich die Menge vom Friedrichsplatz zum Innenstadtring aufmacht, wird sie lediglich von wenigen motorisierten Polizisten begleitet. Drohungen und Beschimpfungen gegen Pressevertreter:innen sind an der Tagesordnung, auch gegenüber den Einsatzkräften treten die Querdenker teilweise enorm aggressiv auf. Dass es nicht zu schwereren Auseinandersetzungen kam, ist vermutlich nur mit Glück zu erklären.

Diese Demo zeigt zweierlei Dinge: auf der einen Seite ist es offensichtlich, dass die Querdenker-Bewegung von den Sicherheitsbehörden weiterhin nicht ernst genommen werden. Die Spießbürgerlichkeit der meisten Teilnehmenden und ihre Diversität machen es den einzelnen Einsatzkräften schwer, rabiater gegen sie vorzugehen, zumal sich viele in einer inszenierten Friedlichkeit als unterwürfig präsentieren.

Auf der anderen Seite ist seit gestern klar, dass die Bewegung ihren Zenit noch nicht erreicht hat. Diese Proteste werden weitergehen und durch die aktuellen Verfehlungen der Politik (Maskenaffäre, Korruption, Missmanagement, Impfrückstand) nicht kleiner werden. So wird der Anteil derjenigen, die aus Frustration auf die politische Klasse diese Proteste unterstützen, in den kommenden Monaten weiter wachsen: trotz besseren Wissens, dass man sich hier mit bekennenden Demokratiefeinden verbrüdert – und aufgrund des Fehlens einer progressiven Alternative.

Der Vorwurf, Querdenken wäre rechtsradikal greift weiterhin zu kurz und ist auch an der dünnen Mobilisierung durch linksautonome Initianten abzulesen. Querdenken ist zu divers und bunt, als dass man sie in eine klare politische Richtung verorten kann, greift viele Themen auf, die in der Luft schweben und bleibt somit an jede politische Meinung anschlussfähig.

Was auf diesen Demos passiert ist sehr gefährlich. Bevölkerungsgruppen finden zusammen, die unter normalen Bedingungen nicht zueinander gefunden hätten. Auch wenn die Bewegung weiterhin eher eine kleine, laute Minderheit ist: hier entstehen aktuell Verbindungen, die in den kommenden Jahren eine Bedrohung für unsere Demokratie darstellen können.

Solange sich politisch keine klare Alternativen zum herrschenden Wirtschaftsmodell etabliert, werden sich solche elitenfeindliche Proteste an anderen Themen entzünden – eine Pandemie braucht es dafür zwangsläufig nicht.

„Querdenken“ ist bunt und so divers, wie Fridays for Future es gerne wären. Ein Sammelbecken der Verlierer und Zu kurz gekommenen der vergangenen dreißig Jahre. Der Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann beschreibt Protestbewegungen als ein Selbsterhaltungsprozess moderner Gesellschaften, die sie für die Zukunft überlebensfähig machen. Konflikte treten offen zu Tage, die zuvor noch unsichtbar geblieben sind. Man muss sich also fragen: in was für einer Gesellschaft leben wir, die solchen Protest hervorbringt?

Veröffentlicht von Paul Gäbler

Freiberuflicher Journalist, Podcaster und Fotograf in Berlin.

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